ZKM

Heute war ich im Museum. Es heisst nicht Museum, damit niemand auch nur auf den Gedanken kommen koennte, dass dort spinnwebenbehangenes Gedankengut unter oberlehrerhaften Verständnistexten auf Leinwand oder in Stein zu finden ist. Es heisst Zentrum für Kunst und Medientechnologie. Zentrum, da trifft sich was, nämlich besagte Kunst und Medientechnologie und zwar nicht nur mit dem Zentrumsbesucher, sondern auch mit dem Künstler. Eigentlich sollte letzteres ja als allerersteres geschehen, so mag der geneigte Zentrumsbesucher und die ebenso geartete Leserschaft denken, nein, als allererstes sollten sich Künstler und Muse treffen, aber dazu kommen wir später. Später, das ist nämlich das eigentliche, das derart ureigentliche Problem, das die Kunst schreiend Zentrum und Medientechnologie verlassen sollte. Menschen, die sich dem Zentrumsbesuchertum annähern, werden sie das weite suchen sehen und sagen:"Da geht sie hin, die Kunst." Und dann werden sie die Medientechnologie betrachten und feststellen, dass sie sich nicht mehr in einem Zentrum befinden, weil die Kunst sich dezentralisiert hat. So ist das. Jedenfalls bringt das Wort Zentrum die Multifunktionalität der Sache gut zum Ausdruck und bleibt desweiteren wage genug, um fast alles in dem Zentrumsgebäude ausstellen zu können. Ein Museum eben.
Da stand ich also in dem Museum und ausgestellt wurde wie immer thematisch: der anagrammatische Körper. Interessante Idee. Nur: weder Bravo noch meine Eltern hatten mir je etwas davon erzählt, dass ein Körper anagrammatisch sein könnte. Und sicher hätten sie sich dafür auch nur einen Vogel einfangen, denn schliesslich weiss jedes Kind, dass ein Körper etwas materielles in drei Dimensionen ist, während es sich bei einem Anagramm um die Umordnung der Buchstaben eines Wortes handelt, das entweder in Buchstabenform visuell oder in Lautform akustisch erfasst werden kann – wo bleiben denn die drei Dimensionen? Jedenfalls: es ging darum, dass man den Körper als solchen in Teile zerlegt und diese dann auf die eine oder andere Art und Unart wieder zusammenfügt. Material egal. Ein Puzzle, das man legen kann, wie man möchte oder wie es fällt, wenn einem die Schachtel mit den Teilen aus der Hand rutscht, während man versucht, mit nur einer Hand am dritten Joint in Folge zu ziehen. Darauf wies auch schon ein gänzlich sinnfreies Anagrammgedicht aus dem Wort "anagrammatisch" auf dem Ausstellungsflyer hin.
Jede Art von Kunst ist immer ein fleischgewordener Gedanke des Künstlers, wie groß oder klein er auch immer sein mag, eine Mischung aus Denkbarem und Machbarem, dessen Entstehung aus vielen kleinen Kreisläufen von Erkennen, Können und Erfinden besteht. Oder nicht? Manchmal hat die Idee aufdringlich ausgeprägte Züge, so daß sie das ganze Kunstwerk wie mit einer Fratze überzieht, die, "sieh mich an!" schreit und dabei Spucketröpfchen regnen lässt. Angewiedert von der Aufdringlichkeit dreht man sich weg. Sollte nicht die Ästhetik die Idee mit feiner Subtilität überziehen, so daß man sie, mit ob der Ästhetik offenem Munde staunend nur eindeutig erahnen kann?
Da stand ich also zwischen all den fleischgewordenen Ideen fremder Menschen, aber alles was ich sah, war Fleisch. Fleisch fürwahr, was angesichts einer Ausstellung, die den Körper zum Thema hat, nicht verwundern sollte. Aber alles, was zu sehen war, war, daß jemand etwas gemacht hatte, nicht dass jemand etwas gedacht hatte. Aber noch schlimmer: daß auch keiner der Anwesenden etwas dachte. Schliesslich fordert ja die moderne Kunst vom Betrachter ein wenig Eigeninitiative, er soll, in seiner Funktion als Betrachter betrachtend, sich beim Betrachten etwas denken. Soll sich anregen lassen, das Kunstwerk in sich aufnehmen, verarbeiten, zerstampfen und aufkochen zu feinstem Gedankenbrei. Prost Mahlzeit, Fleisch! Fast alles, das denn dort ausgestellt wurde, stehend, hängend, liegend, hielt jeder Art der Interpretation durch meine Wenigkeit tapfer stand. Soll ich mir etwas hindenken, wo nichts ist? Ja ist denn heut' schon Ostern? Wer hat den bloss die Ideen versteckt? Offen standen nur nette nichtssagende Einfälle, die Lieschen Müllers unter den Ideen sozusagen, die in unbearbeiteten Porträtfotographien gipfelten. Die Musen scheinen sehr scheu geworden zu sein, heutzutage. Muss man denn alles hier selbst machen? Kunstwerke könnten doch einen kleinen Kunstkern enthalten, eine Art Seele, die man erahnen kann, einen Fingerabdruck der Muse. Das wäre hilfreich. Man sieht etwas an und spürt das Lächeln der Muse, einen warmen klaren Luftzug. Man versteht. Man versteht vielleicht nicht, was der Künstler verstanden hat oder was der nächste Besucher versteht, aber was zählt das schon?
Vielleicht sollte die Ausstellung auch eine Art Trauerfeier für die herschende Misere in der Kunstszene sein? Gibt es nicht mehr oder hat hier jemand einfach nicht richtig gesucht, so wie die Leute, die behaupten, im Supermarkt gäbe es keine Windeln, weil sie das richtige Regal einfach nicht gefunden haben? Oder: ich bin einfach zu rückständig. Wie kann man auch heutzutage noch verlangen, dass Künstler etwas schaffen, das eine auch nur im Ansatz erkennbare Aussage hat? Oder – entsetzter Aufschrei! – einen ästhetischen Wert? Man lässt sich in Ruhe: der Künstler schafft etwas, dass dem Publikum nicht gefallen muss und dass Publikum erwartet nicht mehr, dass die Kunst gefällt. Aber gut, dass es ein Zentrum gibt, in dem man sich trotzdem treffen und nicht verstehen kann. Wie im richtigen Leben. Die Kunst wartete jedenfalls draussen vor der Tür auf uns. Nachts schläft sie in der städtischen Galerie, wo moderne Gemälde und Plastiken ihr eine würdige Zuflucht bieten. Und manchmal sitzt sie auf der Treppe mit der Netzkunst, die die Ausstellung davor aus dem Museum vertrieben hat. Sie lungern herum, rauchen die eine oder andere Zigarette und warten darauf, dass ein Künstler vorbeikommt, den sie bemusen könnten. Aber das passiert nicht oft. 
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